Wunsche sind da, um sie zu erfüllen.


Die Welt um mich herum dreht sich. Sie dreht sich schnell, so unglaublich schnell. Schneller als jemals zuvor. Während die Welt 2020 scheinbar stillsteht, passiert bei mir so viel. Träume werden erfüllt, neue Lebensabschnitte gestartet. Es passiert gar nichts und doch so viel. Die Welt steht scheinbar still, doch dreht sich um mich herum schneller als ich es jemals erwartet hätte. 

Es ist schon so lange her, dass ich mich das letzte Mal hingesetzt- und geschrieben habe.

Wann auch? Irgendwie fliegen die Tage nur so an mir vorbei. Montag, Freitag, Sonntag und schon wieder Montag. Jeder Tag dauert gefühlt 30 Minuten und ist dann auch schon wieder vorbei. Ich genieße es unendlich doll. Über ein Jahr habe ich nicht gearbeitet, weil es einfach nicht ging. Sowohl mein Körper, als auch physisch wäre ich dazu absolut nicht in der Lage gewesen. Wie sagt man so schön: Die Gesundheit geht vor  – und genau das war zu jeder Zeit mein Fokus. Nach einem Jahr ging es mir zwar schon ganz gut, jedoch übernehmen sollte ich mich auf gar keinen Fall. Was macht man dann? Ausschlafen? Nichts tun, während alle anderen produktiv sind? Am Besten noch den ganzen Tag fernsehen? Jeder, der schon einmal länger als 2 Wochen Urlaub hatte kennt das bestimmt: So für 2 Wochen ist es ganz cool ausschlafen zu können – man lebt in den Tag hinein. Es ist entspannt und man hat viel Zeit für sich – klingt doch super. Es ist super, bis dann die 2 Wochen vorbei sind und das entspannte Gefühl sich in Langeweile umwandelt, die sich dann in eine Art Angst entwickelt. Angst nicht mitzukommen. Ich bin 23 und kann mein Studium nicht weiter machen. Alle, aber wirklich alle um mich herum schließen ihre Ausbildungen ab oder schreiben ihre Bachelor-Arbeiten, alle um mich herum arbeiten und sichern sich ab für ihr Leben. Und ich? Ich bin durch einen Umstand an die Wohnung gekettet und darf nur minimal arbeiten, um mich selbst nicht zu überlasten. 

2020 sollte meine zweite Zeit in Isolation und gleichzeitig mein Neustart in ein normales Leben werden. Ein stinknormales Leben mit einem geregelten Job, festen Arbeitszeiten, einer tollen Wohnung und zwei wundervollen Kätzchen.  2020 ist auf so vielen Ebenen einfach ein ganz schlimmes Jahr, aber andererseits auch mein Neustart, meine Wiedergewinnung der Normalität und der Verlust dieser Angst nicht hinterher zu kommen. Ich bin 23 – 2 Jahre sind weg. Das ist jetzt so und das wird sich nicht mehr ändern, aber was soll’s! Wie viel liegt denn bitte noch vor mir? Wie viele Wünsche kann ich mir noch erfüllen und wie sehr kann ich es genießen zu tun, was ich möchte und nicht ständig an die Wohnung gefesselt zu sein. 

Am 01. August habe ich eine Ausbildung gestartet. Endlich! Die letzten Monate habe ich mich zwar mit Nebenjobs über Wasser gehalten, doch etwas handfestes habe ich einfach noch nicht in der Tasche. Es ist ein so schönes Gefühl wieder etwas für meine Entwicklung tun zu können – so wie gesunde Menschen – so, wie alle anderen auch. Ich lerne so viele tolle neue Menschen kennen und gewinne tausend neue Eindrücke. Das Leben geht weiter und nach einem endlosen halben Jahr, nach Beendigung der Intensivtherapie darf ich wieder produktiv sein, darf mein Leben weiterleben. 

Als wäre das alles nicht schon aufregend genug für mich, habe ich mir zusätzlich auch noch einen großen Traum erfüllt. Schon ganz lange wünsche ich mir zwei Kätzchen, die mich auf Trapp halten und durch die Wohnung scheuchen. Wenn ich etwas aus der Krankheit gelernt habe, dann dass man nichts aufschieben sollte. Es klingt zwar, wie ein kitschiger Wand-Tattoo-Spruch, doch es ist die Wahrheit – Wünsche sind da, um sie zu erfüllen. Nachdem ich lange gar keinen Kontakt zu Tieren haben durfte habe ich mir jetzt meinen Traum erfüllt und bin ganz verliebt in meine Schätze. 

Ob Corona mir das Jahr versaut hat? Niemals! Ich hätte niemals damit gerechnet, dass dieses Jahr so stattfindet. Ich dachte an Partys, Festivals, Sommerabende am Wasser mit einem Glas Aperol in der Hand und Live-Musik im Hintergrund. Es hätte so schön sein können. Doch ist es jetzt nicht auch schön?

Ich bin nicht in der Situation mich irgendwie beschweren zu wollen. Mein Jahr 2020 ist großartig, nur auf eine ganz andere Weise, eine Weise, die ich mir hätte niemals erträumen lassen. Keine Festivals, keine Partys, keine Menschenmengen und trotzdem, die Menschen, die ich liebe um mich Herum, und die Schritte die ich gehen wollte und will gehe ich und das in einem so hohen Tempo, trotz Corona, trotz eines „versauten“ Jahres.
Es ist ein leidiges und nerviges Thema, das keiner mehr hören kann und ich bin mir sicher, dass jeder mindestens 300 Kreuze macht, wenn alles vorbei ist.  Doch bis dahin sind wir kreativ und machen 2020 zu dem, was es ist: Einem Ereignisreichen Jahr, was uns im Nachhinein vielleicht nicht nur negativ in Erinnerung bleibt. 

Die Feste müssen gefeiert werden.


„So Frau Harms, willkommen zurück. Wir starten morgen den dritten Chemoblock. Der wird im Übrigen der gewöhnlich schlimmste Block in der gesamten Therapie.“ – Wow, sowas hört man natürlich gerne, wenn man gerade schön von Zuhause kommt, es einem prächtig geht und die Werte, wie die Schwester es nannte „traumhaft“ sind. „Bei den meisten Menschen zeigen sich die Nebenwirkungen indem der Mundbereich sehr gereizt wird oder sich auch entzündet, sodass das Essen zu einer richtigen Tortur wird.“ Natürlich war es das nicht und als wäre es nicht schon unangenehm genug wird auch der Magen-Darm-Trakt gerne und häufig stark angegriffen, sodass man sowieso keinen Hunger hat. Essen muss man natürlich trotzdem, sonst geht die Magenschleimhaut kaputt. Na, wenn es sonst nichts ist. Immer mit dem kleinen Sätzchen versehen: „Aber hey, es kann passieren, muss aber nicht. Es ist zwar sehr wahrscheinlich, aber vielleicht auch nicht“. Vielen Dank für diese klare Aussage, das hilft ungemein, oder halt auch nicht. 
Bevor das Ganze hier nur in Gemecker und Gejammer ausartet, keine Angst, trotz dieser nicht ganz so rosigen Aussichten wäre ich ja nicht ich, wenn ich dennoch ziemlich entspannt an die Geschichte herangehen würde. Ich habe nämlich eine Kleinigkeit, die das Ganze fast unwichtig erscheinen lässt. Dieser wahrscheinlich super ätzende Block dauert nur traumhafte 2 Wochen, das heißt Zeit Zuhause ist schon wieder in greifbarer Nähe und es ist ein wundervolles Gefühl.
Zum ersten Mal bekomme ich eine Chemo, die 24 Stunden dauert, 23,5 Stunden um genau zu sein. So ein schön ätzend gelbes Zeug, dem man schon direkt ansieht wie giftig es doch ist. Da die Chemo auch tatsächlich genauso giftig ist, wie sie aussieht muss sie bis zum letzten, klitzekleinen Tropfen meinen Körper wieder verlassen, und das unbedingt. Dazu wird mir noch eine minimale Menge von ach nur ca. 29399283 Litern nebenbei angehängt und ständig durch meinen Körper gepumpt. Es werden sicher super spaßige Tage und auch spaßige Nächte. Eigentlich könnte ich mein Bett ins Badezimmer schieben und dort meine Zeit verbringen, spart mir das ganze hin und her laufen, versteht sich. Als netten Nebeneffekt und Traum jeder Frau wird man noch zur Kontrolle 3 Mal täglich gewogen um zu schauen wie gut das Wasser den Körper wieder verlässt, nicht dass ich dicke Füße oder dicke Beine bekomme, das will hier denke ich keiner. 
Die Zeit hier im Krankenhaus rennt schon wieder. Es ist wirklich schwer vorstellbar, trotz dass man quasi nicht wirklich etwas macht ist hier immer etwas los. Es ist immer entweder Besuch da, es gibt etwas zu Essen oder die Schwestern wuseln um mich herum. Die Tage verfliegen und das ist auch gut so. 

Warum heißt dieser Post jetzt „Die Feste müssen gefeiert werden?“, welche Feste? Es gab eine Zeit hier im Klinikum, auf der Station, die für mich sehr besonders war. Ich schätze mich froh, dass diese Zeit um ist, da sie sehr anstrengend und ätzend war. Es ging mir in dieser Zeit auch wesentlich schlechter als momentan, doch sie war an den benannten Festen wirklich besonders. Es geht um Weihnachten, Silvester und meinen Geburtstag, die ich alle samt hier auf meinem Zimmer 11 verbracht habe. Klingt es nicht traurig? Weihnachten ohne Tannenbaum, ohne die ganze Familie, ohne das Traditionelle Essen, ohne die ganzen Gewohnheiten, die man sein ganzes Leben lang schon macht. War es aber ganz und gar nicht! Dank meiner großartigen Familie war Weihnachten trotz der gegebenen Umstände unfassbar schön, familiär und besinnlich.  Zu dem Zeitpunkt war ich sehr stark isoliert, dass hieß also wir mussten aufpassen, was das Essen anging und wir stellten uns vor allem die Frage: Was zur Hölle können wir machen, das ich essen darf, was also antibakteriell ist, aber trotzdem noch lecker schmeckt? Ist ja immerhin Weihnachten. Wir, meine Familie und ich, kamen schnell auf den gemeinsamen Nenner, dass wir ein kaltes Buffet machen wollten. Auf der Station gibt es zwar eine Mikrowelle, aber macht mal 5 Gerichte nacheinander warm, da ist der erste schon satt, bevor der letzte überhaupt angefangen hat zu essen. So machte sich jeder der Heiligabend hier verbrachte, meine Mama, mein Papa mit seiner Lebensgefährtin und mein Freund, sich zur Aufgabe etwas leckeres mitzubringen, das ich auch essen durfte. An Heiligabend räumten wir noch einen zusätzlichen Tisch ins Zimmer und es entstand ein riesen großes, kaltes Buffet mit Pizza-Schnecken, Chickenwings, Nudelsalat, Mini-Würstchen, Käsewürfeln und vielem mehr. Natürlich viel zu viel, aber auch unglaublich lecker. Meine Bettnachbarin steuerte noch Kinderpunsch dazu und wir spielten Kartenspiele. Es war wirklich wunderschön! Selbst die Schwerstern waren ganz Baff „Sowas hat es hier noch nie gegeben“. Am 1. Weihnachtstag kam dann auch die restliche Familie, es war so auch auf Zimmer 11 doch ein wenig besinnlich. Selbstverständlich habe ich auch viele, schöne Geschenke bekommen, doch das rückte in diesem Moment total in den Hintergrund. Die Mühe, die meine Familie und mein Freund sich machten war mit Abstand das größte Geschenk.

Silvester folgte natürlich auch schnell. Man muss dazu sagen, dass ich nicht den größten Wert auf Silvester lege. Meiner Meinung nach sind die Erwartungen an den Abend immer viel zu hoch und im Endeffekt wird es dann immer blöd. Ich habe meist sowieso nicht so Glück mit dem Abend, habe die letzten Jahre mich gerne auf die Klappe gelegt und konnte so meinen Neujahrstag in der Notaufnahme verbringen, das muss natürlich auch nicht sein. So war mir Silvester also eh nicht so wichtig und doch wurde auch dieser Abend zu einem kleinen Highlight. Den Tag ging es mir nicht ganz so gut, ich war sehr kaputt und kurzatmig, trotzdem freute ich mich sehr auf meine Familie. Die gleiche Kombi, wie schon an Weihnachten. Wir machten uns abends „Brotzeit“ mit leckerem Ciabatta, mit verschiedenem Käse und leckerer Salami und holten noch etwas zum Naschen. Es war ein super zwangloser, und witziger Abend. Gegen halb 11 gingen alle bis auf meinem Freund, da ich doch ziemlich übermüdet war. Dieser blieb noch bis ungefähr 0:30 Uhr und auch wenn es jetzt ein bisschen kitschig klingt, nach einem halben Monat absolut 0 Körperkontakt, um 0 Uhr die erste Umarmung zu bekommen war vermutlich der beste Start ins Jahr 2019, den ich hätte haben können. Man gewöhnt sich dran, dass einen niemand berühren darf, doch dieser Moment war wirklich einmalig schön. Mein Freund verbrachte dann seinen Restabend in Bremen mit seinen Kumpels, während ich um 0:30 brav und auch sehr müde ins Bett gefallen bin. 
16 Tage später folgte dann der nächste Programmpunkt meines persönlichen „Krankenhaus-Event-Kalenders“: Mein Geburtstag! Und auch hier denkt man sich wieder: „Boah, wie ätzend, Geburtstag im Krankenhaus, ist ja scheiße“, falsch gedacht! Nicht mit diesen Freunden und dieser Familie. Auf der Station ging der Tag schon ziemlich gut los, die Schwestern wussten natürlich, dass ich Geburtstag hatte und brachten mir ein bisschen Schoki direkt ans Bett, was wirklich süß war. Früh morgens kamen auch schon 2 Freundinnen, gegen Mittag dann meine Mama und noch 3 Freunde. Dann folgten noch meine Tante und meine Cousine. Zwischendurch traf dann noch mein Papa mit seiner Freundin ein und abends noch mein Freund. Den ganzen Tag über war ich abgelenkt. Ich glaube so wenig Zeit wie an diesem Tag habe ich keinen anderen auf meinem Zimmer verbracht. Es war großartig! Es gab Benjamin Blümchen Torte, ganz viel Schokolade und Naschkram und später holten wir noch beim Gyros-Mann unseres Vertrauens lecker Essen. Ja, man hat hier viel Zeit alles Essbare in der Umgebung auszutesten. Wenn ich ehrlich bin, hätte ich Zuhause vermutlich nicht so viel Aufmerksamkeit gehabt, wie hier. An diesem Tag drehte sich wirklich alles um mich, und ich habe es in vollen Zügen genossen. 

Die nächste Feierlichkeit, die bevorstand war nun die goldene Hochzeit der Großeltern meines Freundes und ich hatte immer noch keine Ahnung wann und wie lange ich das Krankenhaus endlich mal verlassen darf. Natürlich wäre es schön endlich eine Veranstaltung außerhalb des Krankenhauses wahrzunehmen, endlich sich auch mal wieder richtig fertig machen zu können, sich richtig schick machen, aber sicher war natürlich wie immer nichts. Die Hochzeit sollte am 02.03. stattfinden, also noch soweit in der Zukunft, dass ich zu keinem Zeitpunkt genau sagen konnte, ob es klappt oder nicht. Zum Glück hat es genau gepasst. Endlich Ausgang, 2,5 Wochen und am 04.03 sollte es zurück gehen. Passte also genau. Einfach auf einer Feier spaß haben, sich den Magen vollschlagen, quatschen und eine gute Zeit haben, das sind so Dinge, die man wirklich schätzen lernt. Natürlich ganz ohne Alkohol und es bringt trotzdem Spaß ohne Ende.
Jetzt stehen die nächsten Chemos vor der Tür. Es wird vielleicht unschön, vielleicht auch nicht, garantiert wird einem hier nichts. Man kann bloß so gut es geht gegenarbeiten. Momentan geht es mir noch sehr gut und ich merke nichts, ich stehe aber auch noch ganz am Anfang des dritten Blogs. Die ersten Werte meines Knochenmarks sind schon eingetroffen und zum Glück wieder einmal durchweg positiv. Das gibt wie immer unendlich viel Kraft. 
Um beim Thema zu bleiben, Ostern steht vor der Tür und somit auch gleichzeitig der Geburtstag meiner Mama und der meines Freundes. Vielleicht kann ich ja wenigstens ein paar dieser Tage in Freiheit verbringen, Daumen drücken! 

  • Blazer: Hallhuber
  • Kleid: Only
  • Gürtel: Moschino
  • Kette: H&M
  • Schuhe: Sacha Shoes
  • Mütze (auf dem letzten Bild): Canada Goose
  • Pulli & Rollkragen: H&M & Zara

*Werbung durch Markennennung